Paulo Coelho

Stories & Reflections

Achtes Kapitel

Author: Paulo Coelho

Lukas Jessen-Petersen, Ex-Ehemann

Als Viorel geboren wurde, war ich gerade zweiundzwanzig geworden. Ich war nun kein Student mehr, der eine ehemalige Kommilitonin geheiratet hat, sondern ein Mann, der für den Unterhalt seiner Familie sorgen musste und eine große Last auf den Schultern trug. Meine Eltern, die selbstverständlich nicht zur Hochzeit gekommen waren, machten meine finanzielle Unterstützung davon abhängig, dass ich mich von Athena trennte und das Sorgerecht für den Sohn bekam. Genauer gesagt, hatte mein Vater diese Bedingungen gestellt, denn meine Mutter weinte immer nur am Telefon und erklärte mich für verrückt, wollte aber ihren Enkel in den Armen halten. Ich hoffte, dass meine Eltern ihren Widerstand allmählich aufgeben würden, wenn sie sahen, wie sehr ich Athena liebte und dass ich entschlossen war, bei ihr zu bleiben.

Aber sie blieben hart. Also musste ich jetzt allein für Frau und Kind sorgen. Ich habe mich exmatrikuliert. Darauf erhielt ich einen Anruf meines Vaters, der zugleich drohte und Versprechungen machte: Er sagte, ich würde enterbt, sollte ich so weitermachen, wenn ich aber zurück an die Uni ginge, würde er mich “vorübergehend” unterstützen, wie er sagte. Ich weigerte mich. Als romantischer junger Mensch musste ich diese radikale Position einnehmen. Ich sagte ihm, ich könne meine Probleme allein lösen.

Bis Viorel geboren wurde, tat Athena alles, damit ich mich selber besser verstand. Und das tat sie nicht über unsere sexuelle Beziehung – die, wie ich gestehen muss, sehr schamhaft war -, sondern durch die Musik.

Später erfuhr ich, dass es Musik gibt, seit es Menschen gibt. Unsere Vorfahren, die von einer Höhle zur anderen zogen, konnten nicht viele Dinge mit sich nehmen, doch die moderne Archäologie hat gezeigt, dass sie, neben dem wenigen, das sie zum Essen brauchten, immer ein Musikinstrument dabeihatten. Die Musik spendet nicht nur Trost und Zerstreuung, sie leistet weitaus mehr: Musik transportiert Ideen. Die Musik, die Menschen hören, kann etwas über diese aussagen.

Wenn ich Athena während ihrer Schwangerschaft tanzen sah, wenn ich hörte, wie sie ihre Gitarre spielte, damit das Baby sich beruhigte und sich geliebt fühlte, begann ich mich von ihrer Sicht der Welt anstecken zu lassen. Als Viorel geboren wurde, haben wir ihm, nachdem wir nach Hause gekommen waren, gleich ein Adagio von Albinoni vorgespielt. Wenn wir uns einmal stritten, half uns die Musik, uns wieder zu versöhnen, obwohl ich zwischen beiden bisher keine Verbindung gesehen hatte.

Aber mit Romantik ließ sich kein Geld verdienen. Da ich kein Instrument beherrschte, konnte ich nicht in einer Bar aufspielen. Schließlich bekam ich eine Anstellung als Praktikant in einem Architekturbüro, in dem ich Statikberechnungen machte. Der Stundenlohn war relativ hoch, daher ging ich morgens früh aus dem Haus und kam abends spät wieder. Ich sah meinen Sohn kaum – er schlief immer, und ich konnte kaum mit meiner Frau reden oder sie lieben, weil ich ständig erschöpft war. Ich fragte mich nachts immer: Wann wird sich bloß unsere finanzielle Lage verbessern, wann können wir ein sorgenfreies Leben führen? Obwohl ich mit Athena grundsätzlich einer Meinung war, was die Nutzlosigkeit von Diplomen betrifft, so sind doch in einigen Fällen, wie dem Ingenieurwesen, wie in Jura und Medizin, Fachkenntnisse schlicht unerlässlich, wenn wir das Leben anderer nicht in Gefahr bringen wollen. Und ich war gezwungen gewesen, die Ausbildung zu einem Beruf aufzugeben, den ich mir selber gewählt hatte, einen Traum, der mir sehr wichtig war.

Wir begannen heftiger zu streiten. Athena beklagte sich, dass ich mich kaum um das Kind kümmere, dass es einen Vater brauche. Wenn es ihr nur darum gegangen wäre, ein Kind zu bekommen, hätte sie es auch allein aufziehen können. Mehr als einmal stand ich an der Wohnung und ging dann wieder weg, nachdem ich durch die Wohnungstür geschrien hatte, Athena verstehe mich nicht und ich verstehe nicht, wieso ich dieser “Verrücktheit” zugestimmt hätte – mit zwanzig Jahren ein Kind zu haben ohne die minimalen finanziellen Voraussetzungen. Wir schliefen immer seltener miteinander, sei es aus Müdigkeit, sei es, weil wir sauer aufeinander waren.

Ich bekam eine Depression. Ich fand, dass ich von der Frau, die ich liebte, manipuliert worden war. Athena bemerkte meinen immer eigenartigeren Seelenzustand, und anstatt mir zu helfen, konzentrierte sie ihre ganze Energie auf Viorel und die Musik. Ich flüchtete mich in die Arbeit. Hin und wieder redete ich mit meinen Eltern und musste mir von ihnen die gleiche Geschichte anhören: “Sie hat nur ein Kind bekommen, um dich an sich zu binden.”

Außerdem wurde Athena immer religiöser. Unmittelbar nach der Geburt hatte sie verlangt, dass unser Sohn auf einen Namen getauft wurde, den sie selbst bestimmt hatte: Viorel, ein rumänischer Name. Ich denke, dass außer ein paar Emigranten in England niemand Viorel heißt, aber ich fand das kreativ, und mir war klar, dass sie damit eine seltsame Verbindung mit einer Vergangenheit herstellte, an die sie keine Erinnerung haben konnte – die Tage im Waisenhaus in Sibiu.

Ich versuchte mich in alles zu fügen – aber ich spürte, dass ich Athena wegen des Kindes verlor. Wir stritten immer häufiger, sie fing an zu drohen, sie werde das Haus verlassen, denn sie fand, Viorel bekäme die “negativen Energien” unserer Streitigkeiten ab. Eines Nachts war nach einer weiteren Drohung allerdings ich es, der die Wohnung verließ. Ich wollte wieder zurückkommen, wenn ich mich etwas beruhigt hätte.

Ich wanderte ziellos durch London, verfluchte das Leben, das ich mir gewählt hatte, den Sohn, auf den ich mich eingelassen hatte, die Frau, die an meiner Anwesenheit kein Interesse mehr zu haben schien. Ich ging in den erstbesten Pub neben einer U-Bahn-Station und trank vier Whisky. Als der Pub um 23 Uhr schloss, ging ich in einen dieser Läden, die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet sind, kaufte noch mehr Whisky, setzte mich auf eine Bank auf einem Platz und trank weiter. Eine Gruppe Jugendlicher kam hinzu. Die jungen Leute wollten, dass ich die Flasche mit ihnen teilte. Ich weigerte mich und wurde verprügelt. Die Polizei kam umgehend, und wir landeten alle auf der Wache.

Ich wurde entlassen, nachdem ich meine Aussage gemacht hatte. Selbstverständlich habe ich niemanden angezeigt, sagte, es habe nur einen lächerlichen Streit gegeben, denn ich hatte keine Lust auf eine Gerichtsverhandlung. Als ich die Polizeiwache verließ, war ich dermaßen betrunken, dass ich auf den Tisch eines Inspektors fiel. Der Mann war sauer, doch anstatt mich wegen Angriffs gegen einen Staatsbeamten festzunehmen, schob er mich hinaus.

Und dort stand einer meiner Angreifer, der sich dafür bedankte, dass ich die Angelegenheit nicht weiter verfolgen wollte. Er meinte, meine Kleidung sei voller Blut und Matsch, ich solle mir neue besorgen, bevor ich nach Hause ging. Anstatt mich auf den Nachhauseweg zu machen, bat ich ihn um einen Gefallen: er möge mich anhören, denn ich müsse unbedingt mit jemandem reden.

Er hörte sich eine Stunde lang meine Klagen an. Tatsächlich sprach ich nicht mit ihm, sondern mit mir selber – mit einem jungen Mann, der das ganze Leben noch vor sich hatte, möglicherweise eine blendende Karriere, eine Familie mit genügend Kontakten, um ihm viele Türen zu öffnen, der aber jetzt eher einem Bettler glich, betrunken, müde, traurig, ohne Geld. Alles wegen einer Frau, die sich nicht einmal für ihn interessierte.

Am Ende meiner Geschichte sah ich die Lage, in der ich mich befand, etwas klarer: ein Leben, das ich im Glauben gewählt hatte, die Liebe könne immer alles retten. Aber das stimmt nicht: Manchmal führt sie uns in den Abgrund, wozu erschwerend hinzukommt, dass wir im Allgemeinen geliebte Menschen mit in den Abgrund reißen. In meinem Fall war ich auf dem besten Weg, nicht nur mein, sondern auch Athenas und Viorels Leben zu zerstören.

In diesem Augenblick habe ich mir wieder einmal gesagt, dass ich ein Mann war, der sich den Herausforderungen würdig stellte, und kein kleiner Junge, der mit einem Silberlöffel im Mund geboren worden war. Ich ging nach Hause. Athena schlief bereits mit dem Baby im Arm. Ich nahm ein Bad, ging wieder hinaus, um die schmutzige Kleidung in den Mülleimer zu werfen, und legte mich merkwürdig ernüchtert ins Bett.

Am nächsten Tag sagte ich, dass ich die Scheidung wolle. Athena fragte, wieso.

“Weil ich dich liebe. Ich liebe Viorel. Ich habe euch dafür verantwortlich gemacht, dass ich meinen Traum, Ingenieur zu werden, aufgegeben habe. Hätten wir etwas gewartet, sähen die Dinge anders aus, aber du hast nur an deine Pläne gedacht – und ich kam darin nicht vor.”

Athena reagierte, als hätte sie schon darauf gewartet oder als hätte sie es unbewusst provoziert.

Mein Herz blutete, denn ich hoffte, sie würde mich bitten zu bleiben. Aber sie wirkte ruhig, resigniert, nur darum besorgt, das Baby unsere Unterhaltung nicht hören zu lassen. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass sie mich nie geliebt hatte, dass ich nur das Werkzeug für die Verwirklichung des verrückten Traumes gewesen war, mit neunzehn ein Kind zu bekommen.

Ich sagte ihr, sie könne die Wohnung und die Möbel behalten, doch sie weigerte sich: Sie werde eine Zeitlang bei ihren Eltern wohnen, sich eine Arbeit suchen und eine eigene Wohnung mieten. Sie fragte, ob ich Viorel finanziell unterstützen werde. Ich stimmte sofort zu.

Ich erhob mich, gab ihr einen langen letzten Kuss. Ich bestand erneut darauf, dass sie dort wohnen bleiben solle. Sie sagte wieder, sie werde zu ihren Eltern ziehen, sobald sie ihre Sachen gepackt hätte. Ich ging in ein billiges Hotel und wartete jede Nacht darauf, dass sie mich anrufen und bitten würde zurückzukommen, um ein neues Leben anzufangen – ich war sogar bereit, wenn es notwendig sein sollte, das alte Leben wiederaufzunehmen, denn die Entfernung hatte mich erkennen lassen, dass es auf der Welt niemanden und nichts Wichtigeres gab als meine Frau und meinen Sohn.

Eine Woche später kam endlich ihr Anruf. Aber sie sagte mir nur, sie habe alle ihre Sachen mitgenommen und nicht vor zurückzukommen. Nach weiteren zwei Wochen erfuhr ich, dass sie eine kleine Dachwohnung in der Basset Road gemietet hatte, wo sie tagtäglich mit dem Kind auf dem Arm drei Treppen hinaufsteigen musste. Weitere zwei Monate vergingen, und wir unterzeichneten schließlich die Scheidungspapiere.

Meine wahre Familie war für immer weggegangen. Und die Familie, in der ich aufgewachsen war, empfing mich mit offenen Armen.

Gleich nach unserer Trennung und dem ungeheueren Leid, das ihr folgte, fragte ich mich, ob ich nicht doch eine falsche, inkonsequente Entscheidung getroffen hätte, ob ich nicht in meiner Jugend zu viele Liebesromane gelesen hätte und, koste es, was es wolle, den Mythos von Romeo und Julia noch einmal hatte leben wollen. Als sich der Schmerz allmählich legte – und dafür brauchte es viel Zeit -, begriff ich, dass das Leben mir erlaubt hatte, der einzigen Frau zu begegnen, die ich je würde lieben können. Jeder Augenblick an ihrer Seite hatte sich gelohnt; trotz allem, was geschehen war, würde ich alles wieder genauso machen.

Aber die Zeit heilt nicht nur Wunden, sie zeigte mir noch etwas anderes: Man kann im Leben durchaus mehr als einen Menschen lieben. Ich habe wieder geheiratet, bin mit meiner zweiten Frau glücklich und kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Das heißt aber nicht, dass ich alles verleugne, was ich davor erlebt habe, solange ich nicht beide Erfahrungen miteinander vergleiche: Man kann die Liebe nicht messen wie die Länge einer Straße oder die Höhe eines Gebäudes.

Etwas sehr Wichtiges ist aus meiner Beziehung mit Athena geblieben: ein Sohn, ihr großer Traum, den sie mir vor unserer Heirat offenbart hatte. Ich habe mit meiner zweiten Frau ein weiteres Kind und bin jetzt, anders als vor zwölf Jahren, auf die Höhen und Tiefen der Vaterschaft gut vorbereitet.

Irgendwann einmal, als ich Viorel zu einem Wochenende, das er mit mir verbringen sollte, abholte, habe ich das Thema angesprochen: Ich fragte Athena, warum sie so ruhig geblieben sei, als sie erfuhr, dass ich mich von ihr trennen wollte.

“Weil ich mein ganzes Leben lang gelernt habe, still zu leiden.”

Und erst da umarmte sie mich und weinte all die Tränen, die sie an jenem Tag hätte weinen wollen.

Das nächste Kapitel wird online sein am 14.09.07

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